Zustandsbeschreibung

Freitag, 17. September 2010

...

Am Mannheimer Landgericht wird der Prozess gegen einen bekannten Fernsehmoderator eröffnet, der seine Ex-Freundin brutal vergewaltigt haben soll. Der Fall steht im Zentrum des allgemeinen Medieninteresses, prominente Strafrechtler, Boulevardjournalisten, Kultursoziologen, Frauenrechtlerinnen haben sich dazu geäußert.
Im Gerichtssaal lässt der Mann, ein in die Jahre gekommener Erotiker in Anzug und Krawatte, dessen Körperpflege die Zeit in Untersuchungshaft erstaunliche Dienste erwiesen hat, über seine Anwälte verkünden, dass er seine Aussage verweigere. Alles Relevante sei bereits im Vorfeld gesagt worden: Was damals der Wahrheit entsprochen habe, gelte auch heute noch und könne einzig dazu dienen, ihn zu entlasten.
Auch die Frau, blond, zierlich, blaue Hose und enges Halstuch, ist unerwartet schon zum ersten Verhandlungstag erschienen und hat auf der gegenüberliegenden Seite platzgenommen. Elf Jahre lang war sie seine Geliebte, hat sich Hoffnungen auf Kinder und eine gemeinsame Zukunft gemacht. Heute liegt sie auf dem Seziertisch einer gnadenlosen Öffentlichkeitsmaschinerie.
Wann immer für ihn gesprochen wird, wendet sie instinktiv ihren Blick in eine andere Richtung. Er selbst wiederholt diesen Vorgang, sobald von ihr die Rede ist. Den beiden, das spürt man, ist die Gegenwart des anderen in einer Art höllischen Apotheose so unüberwindlich geworden, dass sie sich nur noch in physischer Abwehr ertragen lässt.

(Kurz zuvor ist in einem Radiokommentar zu hören, das alles gebe einen spannenden Stoff ab. Ein berühmter Kriminalschriftsteller interessiere sich bereits dafür.)

Dienstag, 17. November 2009

da bin ich

Jetzt bin ich

jetzt bin ich
raus
jetzt bin ich
ungelenk, zerzaust
getrieben, abgeschoben
da
hockt mein Körper
immer noch
und schreit so laut wie allzumal
die immergleichen alten Frage
-zeichen
kanns doch nicht ändern
so ist Leben halt
ganz allgemein
banal.

und wenn am nächsten Tag
der Regen wieder schneit
die Sonne explodiert, ohne dass wirs merken
die Erdplatten wabern
um einen flüssigen Kern.

jetzt bin ich
da
und nirgendwo sonst
außer in Dir
(aber das wär etwas Anderes)
musst du verstehen...

da
schau ich tiefer
fühl ich näher
bin noch nicht sicher
was die Worte sind.

Krähengeheul
Nachtschattenunkraut
arbiträre Form von Energie,
Zeugen der Sonne, aus
Singularitäten geborene Unendlichkeit
in Zeit, zerstückelter Himmel, ver-
rückte Wirklichkeit, jenseits...

bin ich,
da
und weiß nicht was ich sage
woher es kommt
wohin es geht
warum verknüpft mit diesem, nicht jenem,
warum immer noch suchend, warum immer allein
und keine Frage verliert je ihre Bedeutung.

so bin ich
jetzt
drum sollt ich besser schweigen

Samstag, 16. Mai 2009

Zug

Der Zug fährt an. Einige Sekunden davor ein leichtes Vibrieren der Sitze, fast unmerklich. Wer schon lange fährt, Erfahrung hat, kann es spüren. Dann ein Ruck, die Landschaft setzt sich in Bewegung. Die Geschwindigkeit steigert sich, bis zu einem bestimmten Level, über das sie nicht hinauskommt, gleich einer unsichtbaren Wand, die der Zug nicht durchdringen kann. Auch er ist gefangen. Er kann nicht ausbrechen, er folgt den Schienen, muss ihnen folgen. Wie das unentrinnbare Schicksal liegen sie vor ihm. Fahren, fahren, immer nur fahren. Weite Felder kommen in Sichtweite, näher, durch sie hindurch, verschwunden. Orte, Bilder sind bekannt, flüchtig, wie jemand, der hier und da in das Leben tritt, ohne je eine Hauptrolle zu spielen. Niemand, sich anzuvertrauen. Der Zug bremst, veliert an Geschwindigkeit, ein Bahnhof liegt in Sichtweite. Halt. Leute verabschieden sich, steigen aus, andere, neue Gesichter kommen hinzu. Dann das alles wieder von vorne. Anfahren, beschleunigen, durch die Landschaft, bremsen, anhalten, stehen. Immer und immer wieder. Wie ein Zirkel. Wie ein Fluch. Unterwegs sein, ohne anzukommen. Ankommen, ohne bleiben zu dürfen.

Ich sitze am Fenster, schaue in die bewegte Landschaft vor mir. Schräg links mir gegenüber einer jener gesichtslosen Fahrgäste. Wir tun so, als würde der andere nicht existieren, als seien wir allein in diesem Zug. Ich bin es auch. Allein unter all diesen Menschen.
Ich achte nicht mehr darauf, was draußen zu sehen ist, ob es ein Haus, ein Baum, eine vielbefahrene Straße ist, was da vorübergleitet. Ich sehe nur die Bewegung. Das Denken wie gelähmt.
Eine Wiese. Leuchtend grün. Große Bäume mit weit ausholenden Ästen. Wir könnten da im Schatten liegen, auf einer leichten Wolldecke. Kühlen Sekt und süße Trauben neben uns. Dazu vielleicht einer dieser großen Picknick-Koffer aus hellbraunem Flechtwerk. Wir könnten da draußen sein, wir würden das Gras riechen und das Salz, das in der Luft liegt. Der Boden fest und feucht unter uns. In diesem Gemälde sein, statt es nur zu betrachten. Es könnte Sommer sein.
Ich fühle mich wie eine Pflanze, die ein dummer Junge aus ihrem Erdreich buddelte. Meine Wurzeln, zerrissen, sie wollen zurück. Sie liegen an der Luft, ohne Wasser, fremd die Welt außenher. Fremd und falsch. Ich weiß jetzt, was ich empfinde. Es ist Mangel. Ein Gefühl des Fehlens. Ein Stück meiner Welt, lebensnotwendig, ist verloren gegangen. Es fehlt und fehlt und wächst nicht nach.

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