Dienstag, 27. Oktober 2009

Ein Tagelied

Vorweg: Dieses Tagelied ist im Rahmen eines mittelhochdeutschen Proseminars entstanden. Aufgabe war es, die Thematik des mitteralterlichen Tageliedes (der schmerzhafte Abschied beim Anbruch des neuen Tages nach einer heimlichen Liebesnacht) auf die Moderne zu übertragen und so ein neuhochdeutsches Tagelied zu produzieren. Dabei sollte die Kanzonenform eingehalten werden. Deswegen mag das Lied nun um einiges, sagen wir, `traditioneller´ klingen als die meisten der bisherigen Beiträge.

Die Nacht beginnt.

Die Nacht beginnt,
die Dunkelheit gewinnt
den müden Kampf gegen den Tag.
Beim Mondscheintanz
unter der Sternen Glanz -
die Welt ist so, wie ich sie mag.
Dann singt die Nacht ganz heimlich still und leise
das Lied der Liebe nur für uns allein.
der Sternenstaub zieht um uns weite Kreise
und ich kann hier mit dir für immer sein.

Bis der Tag erwacht,
denn mit ihm geht die Nacht,
und mit ihr gehst du fort von mir.
Die Sonne dringt
durchs Fenster ein und singt
ganz leise: Er ist nicht mehr hier.
Denn es kann stets nur einen Sieger geben,
im morgendlichen Kampf siegt Sonnenschein.
Die Nacht gibt auf ihr dunkel-düstres Leben,
doch nur um abends wieder Herr zu sein.

Ihre Wissenschaft ist meine Libido!

Émile legt das Manuskript in den Einzug und beobachtet wie der Kopierer die erste Seite schluckt. Er wippt im Rhythmus der Kopien von den Fersen auf die Zehen. Der Kopierer schluckt die zweite Seite, legt die dritte frei, eine Lithographie, kaum Kontrast. Ein blasses Gesicht, hohe Stirn, Nickelbrille, buschige Henriquarte. Émile schließt die Augen, wippt und wippt, Vorlagen werden eingezogen, Kopien ausgespuckt. Ein Piepsen bringt ihn aus dem Rhythmus. Er löst die Seitenverkleidung und zieht das zerknitterte Papier aus der Walze, drückt «fortfahren». Ein Brief, die Handschrift, das S ohne Kurven, nur ein Strich, Querstriche über den Langvokalen. Émile liest stumm, zerknüllt mit dem letzten Satz das Papier, wirft es gegen die Wand, setzt sich auf den Boden, klopft mit den Knöcheln seine Stirn: «Er weiß, es kennt ihn jedes Kind» und starrt in die Papierausgabe. Die Kopien gleiten auf den Stapel. Das Druckgeräusch verstummt, er kniet vor dem Kopier, nur die Transportrollen drehen noch nach. Er nimmt die letzten Kopien, zerrt am Stapel, ihn zu zerreißen. Ein kleines Donnerblech, das in Schwingung gerät. Er schlägt den Stapel gegen den Kopierer, ein Scheppern. Lässt sich auf den Bauch fallen, wimmert, seine Wange berührt die Fließen. Er sieht sie unter der Eckbank, kriecht unter den Tisch, zu ihr. Gebückt, im Schneidersitz, die Maschine vor sich, zerschneidet er den Stapel in ungleiche Teile. Er kehrt die Schnipsel zu einem Häufchen, krabbelt unter dem Tisch vor, schiebt es vor sich her, steht auf, zieht mit Zeige- und Mittelfinger seinen Scheitel nach, klopft seine Hose ab, steckt das Manuskript in seine Mappe, die Schnipsel in seine Jackettaschen, verlässt den Kellerraum.
Im Hörsaal setzt er sich in die erste Bank, zieht einen Klammeraffen aus seiner Mappe, legt ihn neben sich. Émile schließt die Augen, fährt mit seinen Fingerkuppen über das Holz, die Scharniere, die Stiftrinne, über die eingeritzten Sprüche. «Wenni, wen nie, nein, Wennihndiewelt, wenn ihn die welt, dieerbet, die er betrog». Er starrt auf den Tisch: «mit großen klaren Augen misst», an die Decke, beißt auf die Backenzähne, dass die Kieferknochen pulsieren, spreizt die Finger und beobachtet sich, wie er auf den Klammeraffen schlägt, immer wieder mit der flachen Hand, Klämmerchen rieseln auf den Marmor. Die Mappe unter dem Arm, verlässt er den Hörsaal, das Seminar, überquert den Kopernikusplatz.
Vom Café im Winkel aus beobachtet er, wie der Wind die Spur zerstäubt, Schnipsel, die aus seinem Jacket gefallen sind, beige Drei- und Vierecke. Kinder jagen Tauben nach. Ein kleiner Junge betrachtet ein Dreieck, Vorder- und Rückseite, nimmt ein zweites, hält sie aneinander, gegen die Sonne, dreht sein Kaleidoskop, lässt Formen entstehen, wie es seine Handgelenke zulassen. «Und keimt schon in des Knaben Blick», da ruft ihn sein Vater. Er dreht sich im Reigen, wird schneller, quiekt, wirft die Schnipsel in die Luft und rennt über den Platz, um eine Hausecke. Émile zieht zwei Schnipsel aus seiner Tasche, hält sie aneinander. «Darf ich Ihnen» - «Tee.» Er zündet sich eine Zigarette an und verschmort die Schnipsel mit der ersten Glut, zieht die restlichen aus der Tasche, klemmt sie unter den Aschenbecher, nimmt seinen Federhalter aus der Innentasche, schreibt, steckt den ersten Schnipsel in seine Mappe, schreibt auf dem nächsten weiter. Seine Beine zappeln unter dem Tisch, bis sich ihre Bewegungen im Rhythmus der Rathausglocken finden, ihn weiterführen, nach dem letzten Schlag. Er zieht den letzten Schnipsel vom Stapel, schreibt. «Darf ich noch» - «danke. Zahlen.»
Ein Schatten über Émile. «Ihre Wissenschaft war meine Libido!» Georg klopft Émile auf die Schulter, setzt sich ihm gegenüber, knöpft sein Jackett auf. «Soll das erotisch sein? » Émile steckt den Schnipsel in seine Mappe. «Émile.» - «Georg.» - «Ist etwas?» - «Das macht 2, 50.» - «Später, wir bekommen zwei Pils. Wegen Andrea?». Georg klebt sich ein Zigarettenpapier an die Lippe, lockert die Tabakfäden in seinem Beutel. «Hast du das Manuskript schon?» Émile schüttelt den Kopf, beobachtet sich, wie er die Fingernägel von Daumen und Zeigefinger abwechselnd über- und untereinander schiebt, ein Knistern vom Wackelkontakt. «Noch nicht fertig.» - «Was liest er heute?» - « Keller. Gedichte.» - « Ich liebe Keller.» Georg klopft mit den Knöcheln auf den Tisch, ein Lidschlag, Émile schaut auf. «Wenn du wegen Andrea so guckst, brauchst du das echt nicht tun. Ruf sie an, sie wartet bestimmt. Sie hat Dinge gesagt, du hast Dinge gesagt, dann sind die Dinge so im Raum gestanden, dann hat es niemand mehr ausgehalten da, beide sind gegangen, jeder woanders hin, in eine andere Ecke zum Schmollen.» Georg befeuchtet die Klebefalze, rollt den Tabak zur Zigarette, zündet sie an. «Die Dinge da im Raum stehen da, weil die so sind. Jedenfalls meine.» - «Glaubst du.» - «Sie hat gelogen, sie treffen sich, betrügen mich beide.» - «Und wenn. Ich lüge ständig. Keller. Ehrlich gesagt, ich finde ihn ermüdend, gut, ich kenne ihn kaum, hat der überhaupt Gedichte geschrieben?» - «Georg, das ist anders.» Die Kellnerin stellt zwei Tulpengläser auf den Tisch, die Brauereimarke flattert am Stiel. «Zum Wohl.» Georg prostet ihr zu. «Ziemlich früh am Tag.» Er lacht, sie stoßen an. «Eichendorff, Storm, alle ermüdend, sagt bloß niemand.» - «Ich ekle mich.» Émile nippt an seinem Glas. «Das klingt neurotisch.» - «Vor dem, was ich weiß.» Georg trinkt sein Bier auf einen Zug leer. «Émile, ich muss los, wir reden nach der Sitzung. Wir sehen uns später bei Weingartner, c.t., nicht wahr? Zahlst du für mich mit, ja? Ich hab gerade nichts einstecken. Und ruf sie an. Bis später.» Am Café läuft der kleine Junge vorbei. Die eine Hand beim Vater, in der anderen hält er einen Stock, kein Wanderstab, mehr Schwert oder Wünschelrute. Émile legt Münzgeld auf den Tisch, nimmt seine Mappe unter den Arm und folgt ihnen in die Fußgängerpassage.
Den Jungen zieht es mit ausgestrecktem Arm zu dem Blumentopf vor der Bäckerei. Silberblatt, die Blüten lila. Der Vater hält seine Hand fest, der Junge beobachtet, wie er an den Blumen vorbeilaufen muss. Émile nimmt den Schlenker, dicht an den Blumen vorbei, streicht sie sachte mit dem Handrücken. Sie biegen in die Zeugstraße, der Junge schlägt gegen die Regenrinne am Hauseck, sie scheppert. Der Vater reißt ihm den Stock aus der Hand, stellt ihn an die Hauswand, nimmt seinen Jungen auf den Arm, noch bevor er anfängt zu heulen. Émile nimmt den Stock, beobachtet wie sie sich entfernen, dann schlägt er gegen die Rinne, das Heulen verstummt. Der Junge schaut auf, das Kinn auf der Schulter des Vaters, ein breites Grinsen, Émile hebt die Hand, um zu winken, da biegen sie um die Ecke. Émile steht in der Straße mit den schönen Fassaden, Ornamenten aus Stein, da wohnt er. Er drückt mit der Schulter die Türe auf, da steht er im Innenhof, wo die Straßengeräusche nicht da sind, lässt den Stock fallen.
In ihrem Zimmer ist es stickig, Émile lüftet nicht, schiebt Papiere und Bücher mit dem Fuß an die Wand. Er zieht die Kopien aus der Mappe und legt sie den Dielen entlang auf den Boden. Wo der Platz nicht reicht, legt er sie im Fächer, vierzig Duplikate, der Zimmerboden ist bedeckt. Er bewegt sich auf Zehenspitzen, die er versucht in die freien Stellen zu setzen «Dieses Spiel, wenn wir zum Supermarkt gelaufen sind. Es war nie freiwillig. Einmal daran gedacht, musste man das spielen. Die Linien der Pflastersteine durften wir nicht berühren, sonst war man verbrannt. Betrügen konnte man auch nicht, jeder für sich wusste es ganz genau, wann er verbrannt war. Voreinander haben wir dann gesagt, nein, das gilt nicht, ja, das gilt nicht, aber wir wussten, dass es immer gegolten hat. Oft, wenn sie aus dem Gleichgewicht gekommen ist, bin ich auch auf die Linie getreten, damit wir den restlichen Weg gemeinsam rennen konnten, über den Zebrastreifen auf die Straße ohne Pflaster. » Er bewegt die Maus, holt den Computer aus dem Schlaf-Modus und öffnet den Editor, schiebt die Papiere und Bücher an die Schreibtischkante, schüttet die Schnipsel aus seiner Mappe, sortiert sie, ein Mosaik entsteht. «Wir hatten uns nie geschubst. Als ich bei ihm einen festen Stand gefunden habe, habe ich sie zu mir genommen, dann schubst sie mich auf die Linien, dass ich verbrenne. Oder er, das weiß ich nicht.» Er tippt einen Schnipsel ab, zerknüllt ihn, nimmt den nächsten. Keine Korrektur, eins zu eins. Anzahl, vierzig, drucken. Er beobachtet wie die ausgedruckten Seiten auf den Stapel gleiten. Die Patrone fährt zurück in das Druckergehäuse, eine Kadenz, Genugtuung stellt sich ein. Schläge auf den Klammeraffen. An zweiter Stelle oder in der Mitte, für Weingartner heftet er die Seite an das Ende.
Émile öffnet die Fenster, lüftet den Hörsaal, kontrolliert, ob genügend Kreide da und der Schwamm feucht ist, verteilt die Manuskripte auf die Bänke, setzt sich in die erste Reihe. Im Blick zur Tür sieht er den Stock. Die erste Studentin betritt den Saal, setzt sich, nimmt ein Manuskript und blättert, er merkt, dass sie ihn in den Nacken starrt, springt auf, greift seine Mappe, an der Tür den Stock, verlässt den Hörsaal, das Seminar und steht auf dem Kopernikusplatz.
Von der Seite, eine Stimme. «Émile, bleibst du nicht zur Vorlesung.» Er beschleunigt seinen Schritt, der Stock kreist elliptisch in der Waagrechten, Eisenbahnmechanik. Von weitem hört er Georg wieder. «Émile, wohin denn, Émile, bist du verrückt?» Er rennt die wenigen Meter bis zur Fußgängerpassage. «Émile, bleiben Sie nicht zur Sitzung?» Weingartner hält ihn am Arm. Émile schüttelt den Kopf. «Sie wissen wohl schon alles.» - «Wenn man an ihm vorübergeht, pfeift er aus Verlegenheit.» - «Keller, Lied vom Schuft, nicht wahr?» - «Die Jamben sind ziemlich ermüdend.» Weingartner löst seinen Griff. «Kennen Sie sich schon?» Andrea nickt. «Eine äußerst begabte Kommilitonin, finden Sie nicht auch?.» Im Innenhof, wo die Straßengeräusche nicht da sind, zieht er mit Zeige- und Mittelfinger seinen Scheitel nach, merkt an den Haaren, dass er schwitzt. Er muss gerannt sein.

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