Die Hirschkuh
Sie trottet hinter dem Rudel, bleibt immer öfter zurück. Sie läßt es geschehen und humpelt ins Unterholz. Wie rauhe Liebkosungen streichen die Fichtenzweige über die Flanken. Ranken ritzen die Haut. Die Hirschkuh erreicht eine kleine, von Dickicht umfaßte Lichtung. Junge Fichten, Ginster, Brombeerhecken. Die Vorderläufe knicken ein, sie sinkt ins Gras. Fliegen umschwirren die triefenden Tränen- und Nasenlöcher. Ein Zucken geht durch das Fell, als irrlichterten Restströme. Der Blick wird leer, wird blind für den schillernden Taumel der Fliegen. Der schwarze Glaskörper wird zum Spiegel. Wolken treiben auf der glänzenden Kugel, Äste, bewegt von der Brise, wischen durchs Bild. Das Lid schließt sich, bleibt einige Herzschläge lang geschlossen, schiebt sich wieder auf. Tief in ihr zieht sich etwas zusammen, ein Muskel, ein Nerv. Die Hirschkuh stöhnt auf. Indessen ist sie weiter in sich zusammen gesackt. Noch einmal bäumt sie sich auf, reckt den Hals, streckt die Vorderläufe, stellt sie auf, doch zu gespreizt: der Stand bricht ein, die Hirschkuh fällt zur Seite, auf Büschel, Halme, Moos. Sie schlegelt. Schaum tritt auf die Lippen. Die Fliegen schwärmen auf, ein zorniges Brummen hebt an wie von einem einzigen, übergroßen Insekt. Die Fliegen wirbeln durch die Sommerluft, beruhigen sich allmählich, lassen sich, eine nach der anderen, nieder. Bloß die Lider kann sie noch rühren, schnappt hin und wieder mit dem Kiefer nach der heißen Luft. Geruch von Erdbeere und Heidekrauft, die herbe Frische des Harzes. Während das kleine Leben auf ihr wimmelt, sinkt die Lichtung unter die Schatten der Wipfel. Noch atmet die Hirschkuh, so ruhig und so tief, wie sie es bisher nicht kannte. Kühl sinkt der Abend herab.
Sie bleibt immer öfter zurück, stakst steifbeinig hinter dem Rudel, ritzt sich die Haut an den Ranken. Sie läßt es geschehen, sondert sich ab, humpelt, nun allein, ins Unterholz, fühlt die Fichtenzweige wie rauhe Liebkosungen über die Flanken streichen. Sie erreicht eine kleine Lichtung, umfaßt vom Dickicht, junge Fichten, Ginster, Brombeerhecken. Dort sinkt die Hirschkuh ins Gras, indem sie die Vorderläufe wie Ellen einklappt; bleibt so. Die Fliegen haben sie bald gefunden, umschwirren die triefenden Tränen- und Nasenlöcher, ein Zucken schüttert durch die sich hebende Decke, als irrlichterten da Restströme, Elektrizität von Fleisch und Fasern. Der Blick leert sich, folgt nicht mehr dem schillernden Taumel, der schwarze Glaskörper wird zum Spiegel, Wolken treiben auf der glänzenden Kugel, Äste, bewegt von der Brise, wischen darüber. Das Lid schließt sich, bleibt einige wilde Herzschläge lang geschlossen, schiebt sich wieder auf. Einen Pulsschlag lang war sie schon ausgelöscht, die Welt draußen; einen Pulsschlag lang sickerten tief drinnen bloß noch die Räusche des Fleisches, staute sich das Blut in den Venen, stockte, wirbelte; Galaxien vergehen, die Wirbel erlahmen, alles drängt nach innen, Impulsion, die Äonen währt, doch immerzu rast. Etwas zieht sich tief unten zusammen, ein Muskel, wie ein gequetschtes Akkordeon, ein Balg, der mißlich tönt, die Hirschkuh stöhnt auf, der Schmerz poltert nochmals wüst durch die Kammern, sie, die indessen weiter, tiefer eingesunken ist, bäumt sich auf, reckt den Hals, streckt die Vorderläufe, stellt sie auf, doch zu gespreizt, als daß der kurzfristige Stand dauerhaft stützen könnte; nun sackt sie nicht mehr, sie stürzt. Die Hirschkuh fällt seitlich um, auf Büschel, Halme, Moos, schlägt mit den Hufen, als träumte sie einen Galopp. Schaum blubbert auf den Lippen; die Fliegen schwärmen auf, ein zorniges Brummen hebt an wie von einem einzigen, übergroßen Insekt; die Fliegen wirbeln durch die Sommerluft, beruhigen sich allmählich, lassen sich, eine nach der anderen, nieder, um von den freigiebig verspritzten Säften zu trinken. Angenehm ist der Hirschkuh der Kitzel, sie kann bloß noch die Lider rühren, schnappt hin und wieder mit dem Kiefer nach der heißen Luft; Geruch von Erdbeere und Heidekrauft, die herbe Frische des Harzes. So verbringt die Hirschkuh einen Nachmittag, der ihr sanft und ewig erscheint, während das kleine Leben auf ihr wimmelt, bis die Lichtung unter die Schatten der Wipfel sinkt. Die Fliegen steigen nach und nach auf und verschwinden. Noch atmet es die Hirschkuh, so ruhig und so tief, wie sie es bisher nicht kannte. Die Kühle des Abends fällt ein wie ein Laken ohne Schwere.
maudit - 21. Sep, 11:02
3 Kommentare - Kommentar verfassen - 753 mal gelesen
@maudit
Erst die Anmerkungen:
Sie bleibt immer öfter zurück, stakst steifbeinig hinter dem Rudel, ritzt sich die Haut an den Ranken. Sie läßt es geschehen,
> Läßt was geschehen? Dass sie sich die Haut ritzt?
In dem Fall ist sie aktiv dabei es selbst zu tun.
Falls es aber um die "Ausbreitung des Todes" geht
würde ich die beiden Sätze nicht in unmittelbare
Nähe stellen.
sondert sich ab, humpelt, nun allein, ins Unterholz, fühlt die Fichtenzweige wie rauhe Liebkosungen
> Gibt es 'r a u h e Liebkosungen'?
über die Flanken streichen. Sie erreicht eine kleine Lichtung, umfaßt vom Dickicht, junge Fichten,
> 'jungen' oder Punkt nach 'Dickicht'.
Ginster, Brombeerhecken. Dort sinkt die Hirschkuh ins Gras, indem sie die Vorderläufe wie Ellen einklappt;
> Irgendwie unschön, das mit den 'Ellen'...
bleibt so.
> Wozu plötzlich dieser Stil?
Die Fliegen haben sie bald gefunden, umschwirren die triefenden Tränen-
> 'Tränen'löcher? Wohl kaum. Dann weg mit dem -
und Nasenlöcher PUNKT ein Zucken schüttert
durch die sich hebende Decke, als irrlichterten da Restströme,
> Komma weg? Das folgende verstehe ich nicht so recht
in dieser Form.
Elektrizität von Fleisch und Fasern. Der Blick leert sich,
folgt nicht mehr dem schillernden Taumel, der schwarze Glaskörper wird zum Spiegel, Wolken treiben auf der glänzenden Kugel, Äste, bewegt von der Brise, wischen
> 'wischen' passt hier nicht.
darüber. Das Lid schließt sich, bleibt einige wilde Herzschläge lang geschlossen, schiebt sich wieder auf. Einen Pulsschlag lang war sie schon ausgelöscht, die Welt draußen; einen Pulsschlag lang sickerten tief drinnen bloß noch die Räusche des Fleisches, staute sich das Blut in den Venen, stockte, wirbelte; Galaxien vergehen, die Wirbel erlahmen, alles drängt nach innen, Impulsion, die Äonen währt, doch immerzu rast. Etwas zieht sich tief unten zusammen, ein Muskel, wie ein gequetschtes Akkordeon,
> Ich verstehe nicht die Absicht dieser Metaphorik.
ein Balg, der mißlich tönt, die Hirschkuh stöhnt auf, der Schmerz poltert nochmals wüst
> kann der Schmerz 'wüst' sein? Nicht eher die 'Kammern'?
durch die Kammern PUNKT sie, die indessen weiter, tiefer eingesunken ist, bäumt sich auf, reckt den Hals, streckt die Vorderläufe, stellt sie auf, doch zu gespreizt, als daß der kurzfristige Stand dauerhaft stützen könnte;
> Stützt ein 'Stand'? Was stützt sind die Beine. Der Stand
ist vielmehr das abstrakte Resultat des Gestütztseins.
nun sackt sie nicht mehr,
> 'sackt zusammen', oder?
sie stürzt. Die Hirschkuh fällt seitlich um, auf Büschel, Halme, Moos, schlägt mit den Hufen, als träumte sie einen Galopp. Schaum blubbert auf den Lippen;
> Unschön das 'blubbert'.
die Fliegen schwärmen auf, ein zorniges Brummen hebt an wie von einem einzigen, übergroßen Insekt; die Fliegen
wirbeln durch die Sommerluft, beruhigen sich allmählich, lassen sich, eine nach der anderen, nieder, um von den freigiebig verspritzten Säften zu trinken. Angenehm ist der Hirschkuh der Kitzel, sie kann bloß noch die Lider rühren, schnappt hin und wieder mit dem Kiefer nach der heißen Luft; Geruch von Erdbeere und Heidekrauft, die herbe Frische des Harzes. So verbringt die Hirschkuh einen Nachmittag, der ihr sanft und ewig erscheint, während das kleine Leben auf ihr wimmelt, bis die Lichtung unter die Schatten der Wipfel sinkt. Die Fliegen steigen nach und nach auf und verschwinden.
> Ich würde 'verschwinden' bei den Beschreibungen
vermeiden.
Noch atmet es die Hirschkuh, so ruhig und so tief, wie sie es bisher nicht kannte. Die Kühle des Abends fällt ein wie ein Laken ohne Schwere.
Der Kommentar:
Die Gefahr, von der du schriebst, ist für mich gegeben.
Aber - Kitsch hin, Kitsch her - was mich weitaus mehr
interessiert, ist die Frage: Wozu beschreibst du dieses
Geschehen? Es ist ein alltägliches Ereignis, das du
wahrscheinlich auf eine Art beleuchtest, wie es vor
dir noch keiner (genau so) getan hat. Und das Sterben
wird hier ziemlich weit verfolgt. Und dennoch vermag
dieser Text nicht den Eindruck von "Originalität" bei
mir zu erwecken. Klar, was für eine "Originalität",
wenn es ums Sterben geht? Andererseits: Wenns ums
Sterben geht, warum dann ein Text? Und warum
ein solcher?
Ich schließe übrigens grundsätzlich nicht aus, dass ich
irgendeinen Sinn nicht erspäht oder gespürt habe,
deswegen: wenn du meinst, dass ich etwas zu unsubtil in
meinen Urteilen bin, dann kannst du das auch gerne
sagen. Das gilt allgemein für alle meine Beiträge.
Und wenn wir schon beim Sterben sind empfehle ich dir
zur Lektüre: 'Der Tod des Iwan Iljitsch' von Tolstoi.
Gruß, ValiVarius