Dienstag, 16. Juni 2009

...

Da war er. Er kreiste langsam aber sicher unweigerlich vorhanden in ihrem Geist herum und wollte sich nicht sagen lassen, doch nun hatte sie ihn.
Hastig nahm sie einen Stift und bannte ihn auf Papier, damit er ihr nicht mehr hinterrücks ins Genick fallen konnte, und da stand er, grau auf weiß.
Seine Bedrohung war jetzt kein bloßer Schatten mehr, der sie in dunklen Stunden quälte, ohne dass sie ihn je klar sehen konnte, ihre Gedanken durcheinander brachte und in einem unaufhaltsamen Strudel mit sich fortriss. Ja es war ein Strudel, mit unendlich vielen Windungen und glibberigen beinahe-Lösungen, die doch nie irgendwohin führten als im Kreis.
Nach einigem Anstarren war sie sich klar, dass dieser Gedanke ihr Weltbild zerstören würde, sofern sie nicht vorher ihn zerstören könnte.
Sie zündete sich eine Kerze an und dachte.
Dachte länger. Dachte angestrengt. Fieberhaft. Verzweifelt. Panisch. Es ist unmöglich!
Er riss sie in seine Untiefen wie ein zerfetztes Blatt, auf dem einmal Wahrheit gestanden hatte, und jetzt nur noch relativ.
Runde Eins geht wohl an ihn.
Nicht so schnell! Dachte sie und holte sich erst einmal ein Bier.
Die ersten Schlucke waren sehr hastig und ihre Hände seltsam feucht, so dass ihr abwechselnd der Stift oder die Flasche entglitt, doch sie leugnete ihre Nervosität und versuchte, das Problem durch Ablenkung herunterzuspielen, aber nicht einmal Bach konnte ihre Aufmerksamkeit länger als 5min bannen. Kapitulation.
Immer noch war er da, auf diesem verfluchten Blatt Papier. Hätte sie ihn doch nur nie aufgeschrieben!
Nach reiflicher Überlegung, ob sie das denn gelten lassen könne, drehte sie sich erst einmal eine Zigarette.
Starrte ihn an.
Er starrte zurück.
Nach einer Viertelstunde war sie sich sicher, er hat Augen, besser gesagt eines und das sah ein bisschen so aus wie das dessen-Namen-man-nicht-nennen-darf aus einem Fantasy-Film... oder nein, das war ein anderer... egal. Es war böse.
„Du kannst mich niemals besiegen!“
Das kalte Feuer, das aus dem Mund des Dämons drang, drohte die zwergenhafte Angreiferin beinahe zu verbrennen. Sie dachte daran wie leicht es doch wäre, jetzt einfach den Stift wegzulegen und sich verzehren zu lassen, und wie er sie lockte mit süßen Sünden, dem Ende aller Zweifel...
Aber da kam ihr plötzlich ihre Heimat in den Sinn, all die Stunden, wo man fröhlich und friedlich disputierend zusammensaß, nicht eingedenk der Bedrohung, die tief im Westen hinter massiven Buchdeckeln und unendlich vielen Staubpartikeln verborgen auf sie wartete.
Wartete.
Wartete.
Die zwergenhafte Angreiferin hob schmerzvoll und tapfer ihren Blick, unbeugsamer Wille und Mut in ihren strahlend braunen Augen leuchtend, drückte in einer einzigen eleganten Handbewegung ihre Zigarette aus, nahm die Flasche Bier in ihre rechte Hand, streckte sie hoch in die Luft und erwiderte:
„Wir sind Menschen. Wir haben Waffen gegen dich!“
Das Auge blinzelte kurz, als würde es just in dem Moment seine nicht vorhandenen Beine überschlagen und seine ebenso wenig vorhandenen Fingernägel betrachten und sagte fast gelangweilt: „Ach ja?“
Die zwergenhafte Angreiferin war nun gar nicht mehr zwergenhaft, sondern groß wie ein Baum, rammte ihre Füße in die Erde, die Flasche Bier auf den Tisch, legte seine Fingerspitzen vor dem Gesicht zusammen, senkte seine Nasenspitze um 2,5cm und fing an mit tiefer, hypnotisierender Stimme zu sprechen:

„Wenn P, dann Q
P
Ergo Q!“

Die Stimmung war angespannt und bedrohlich. Der unbeachtet über die Sessellehne geworfene Trenchcoat knisterte leise, als der Inspektor sich ein Streichholz aus der Tasche holte um sich seine Pfeife anzuzünden, zum letzten Mal vor Dienstschluss, und - insofern er das richtig einschätzen konnte - wohlverdient.
Die Beweise lagen nun auf dem Tisch und waren so gut wie nicht widerlegbar, er brauchte nicht mehr mit der Jagd nach Indizien seine Zeit und seine Geduld verschwenden.
Das Argument war ungültig.
Leise klopfte es an der Tür. Er legte schnell die Beine auf den Tisch und sagte souverän „herein“, und nur wenige Sekunden später betratet Moneypenny sein Büro, um irgend etwas belangloses zu sagen wie: „der Generalstabspolizeichef wurde soeben ermordet“, als er sie schon um die Hüften fasste, auf den Schreibtisch warf und ihr heiser ins Ohr flüsterte: „Nicht immer so steif. Lassen sie sich doch einfach einmal gehen.“
Erstaunt blickte sie ihn mit ihren unglaublichen Bambi-Augen an und flüsterte beinahe erschrocken: „Aber vorhin am Apparat, sie sprachen von Bedrohung...“
Der Inspektor löst widerwillig seinen Blick von ihrem äußerst aparten Ausschnitt, unterdrückt mit Mühe und einem lauten Räuspern den Impuls seiner Hände und sagt: „Natürlich. Ja. Sie haben Recht. Der Grund. Alles hat einen Grund. Das menschliche Denken basiert auf Prinzipien: Ähnlichkeit, Berührung und Kausalität. Schreiben sie das auf. Sofort. Das gehört in Akte G." "Entschuldigen sie, Herr Inspektor, aber Akte G wird derzeit vom Ministerium für sicherheitsgefährdende Täuschungen anhand lebenslanger Studien überprüft. Der zuständige Kommunikationsbeamte meinte in unserem letzten Gespräch bezüglich dieser Akte, wir müssten hier im Dezernat für geistige Gesundheit vorläufig auf andere Mem-Akte zurückgreifen." "So? Mhm. Dann ist es wohl nicht so wichtig. Schmeißen sie die Notiz in den Papierkorb."
"Sehr wohl, Herr Inspektor. Und dürfte ich vielleicht das Fenster kurz öffnen? Es ist wirklich sehr dunkel und stickig hier drin."
Der Inspektor lässt sich in einem plötzlichen Anfall von Mattigkeit in seinen Schreibtischledersessel fallen. Durch die nun geöffneten Vorhänge fällt Licht auf sein graues Gesicht. Er blinzelt hastig. Staubpartikel tanzen um ihn im Lichtkegel, er denkt: "Sie waren die ganze Zeit da. Ich habe sie nur nicht gesehen." Müde senkt er den Kopf und murmelt leise: "Bringen sie mir bitte einen Kaffee, Miss Moneypenny, ja?" Sie nickt, er schaut nicht hin. Hört das Klacken der schweren holzvertäfelten Tür seines Büros. Vogelgezwitscher. Vor ihm auf seinem Schreibtisch liegt ein weißes Blatt, da steht er geschrieben: Illusio.
Er drückt auf einen Knopf an der Unterseite der zerkratzten Mahagonyplatte vor ihm und fällt in ein Loch zu seinen Füßen, ein Tropfen, ein Stein, ein Gedanke..
Die Kerze ist ausgebrannt. Der Zettel zerknittert, zerwühlt, zerdacht. Partikel schießen frei in Atmosphäre. Grün, grün, grün. Blau. Ein Moll-Akkord. Flussabwärts. Tag.

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