Auf dem Amt

Ich gab mir Mühe, den Sachverhalt möglichst korrekt darzulegen, ohne mich in kleinlichen Details zu ergehen. ohne zu viele oder zu wenige Details. Ich wollte nicht den Faden verlieren oder gar die Tonlage verfehlen. Doch bereits nach wenigen Worten stockte meine Rede, und der Schmerz machte mich stumm. Doch der Schmerz hob sich weit hinauf ins Bewußtsein, schob jeden Gedanken beiseite. Wir, das heißt mein Sachbearbeiter und ich, betrachteten meine Hand. Der rechte Zeigefinger war in die Ringmechanik des Leitzordners geraten, als der Hebel zugeschnappt war; die Spreizklammer stak fest im ersten Fingerglied; rasch tropfte das Blut auf die Bögen und Unterlagen, so gleichmäßig wie der Puls eines Metronoms, und tränkte das Papier. die Spreizklammer hatte das erste Fingerglied durchschlagen; das Blut tropfte rasch auf die Bögen und Unterlagen, so gleichmäßig wie ein Metronom, und versickerte im Papier. Mein Sachbearbeiter ging zur Trinkwassersäule, füllte einen Becher und goß sich den Inhalt übers Haar, dann eilte er hinaus, als gälte es, etwas Dringendes zu erledigen. Ich wagte kaum, mich zu bewegen, fürchtete ich doch die Steigerung der Qual, bloß den Oberkörper konnte ich ein wenig drehen und durch die vertikalen Lamellen der Jalousie hinaus auf den Hinterhof spähen. Meine Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt, falls ich den Schmerz nicht ins Unerträgliche steigern wollte, doch konnte ich den Oberkörper ein wenig drehen und durch die vertikalen Lamellen der Jalousie hinaus auf den Hinterhof spähen. Dort stand mein Sachbearbeiter, mit dem Rücken leicht an die Wand gelehnt, und rauchte. Wassertropfen perlten aus seiner unversehrten Frisur und fielen synchron mit dem Blut aus meinem Finger. Immer wieder zischte und dampfte die von den Tropfen getroffene Zigarette. Endlich warf er sie halbgeraucht weg.
Pierre Lachaise - 19. Jun, 14:13

@maudit

das ist ein wirklich starker text, der viel evoziert und irgendwie an kafka gemahnt, ohne allerdings epigonal zu wirken. im real-seminar letzten mittwoch hat das für viel lob (vor allem von ANH selbst) gesorgt.
kritikpunkte: 1. vielleicht ist am ende die pointe zu schwach, sodass kein richtiger abschluss zustande kommt (sofern dieses prosastück nicht als anfang eines größeren textkörpers gedacht ist). 2. frage ich mich, ob es nicht doch ein bisschen übertrieben ist, wenn ein "leitzordner" einem "das fingerglied durchschlägt", sodass man festgeklemmt und quasi "gefangen" ist. die idee leuchtet mir ein und ich finde sie gut, aber ist eine "spreizklammer" nicht etwas zu schwach für einen solchen unfall? oder ich stelle mir dabei etwas falsches vor, das nicht gemeint ist. dann bitte ich um entschuldigung!

maudit - 20. Jun, 15:33

@Pierre Lachaise

Es freut mich, wenn Ihnen der Text gefällt. Auch ich sehe Schwächen, jedoch andere als die, die Sie anmahnen. Natürlich ist der Text übertrieben, nicht nur die Spreizklammer, die das Fingerglied durchschlägt. Aber: das ist kein realistischer Text (wobei ich Ihnen diese Lesart nicht unterstellen möchte). Auch die Reaktionen, ein "Betrachten" des beschädigten Fingers beispielsweise, zielen an der Plausibilität vorbei. Aber auf die Plausibilität des Geschilderten kommt es mir hier nicht an (sie ist höchstens sekundär). Mir geht es darum, wie ein Sachbearbeiter auf den Hinterhof kommt, wie Wassertropfen, die aufs Zigarettenpapier fallen, Unbehagen hervorrufen -- aber das ist vielleicht mein persönlicher Spleen und nicht gut nachvollziehbar. Zu den Schwächen: Ich finde in erster Linie den Einstieg bläßlich und weitschweifig, halte dagegen das Ende für gut (ich will gar nicht auf eine Pointe hinaus). Ich werde gerne über Ihre Einwände nachdenken und Verbesserungen vornehmen. Nochmals Danke für Ihre Reaktion.
Pierre Lachaise - 20. Jun, 17:14

@maudit

ah, das ist interessant, dass eine "realistische" lesart so gar nicht intendiert ist. vielleicht ist das eher mein problem als rezipient und nicht so sehr das Ihres textes. ich gebe zu, dass die sache durchaus funktioniert und auch reizvoll ist, wenn man von vornherein von einer an der realität orientierten lesart absieht.
den anfang finde ich nicht "schwach" oder "blass", im gegenteil: er leitet knapp und bestimmt in die szene ein, bei gleichzeitiger vorwegnahme des "beamtentonfalls" (stichwort: "sachverhalt"), ohne aber die unterschwellige emotionalität des protagonisten zu verschweigen. mir gefällt das sehr gut.

albannikolaiherbst - 6. Jul, 14:39

@maudit zu Auf dem Amt.

Vieles ist zu dem kleinen Text gesagt worden; zu der Diskussion hierüber noch meine Anmerkung, daß ein Text, der nicht auf den ersten Blick ein absurder sein will, d a n n groß wird, wenn sowohl die realistische als auch die metaphorische, bzw. auratische Interpretation funktioniert: das bedeutet, er darf sich nicht davon abhängig machen, d a ß interpretiert wird, sondern er muß, wie ein Bild, unmittelbar einleuchten. Dies ist mein Einwand gegen den den Finger durchschlagende Ordnermechanismus. Ich habe in meinem Lektorat versucht, das Problem aufzufangen; schauen Sie sich's mal an.
Ein paar weitere Kleinigkeiten gibt es auch noch. Das ist aber alles relativ schnell zu beheben. Bleibt noch das Problem der Pointe. Ich glaube, daß es eine Geschmacksfrage ist - sicher freilich auch die eines schlagenden Einfalls.
Hier das Lektorat:
Ich gab mir Mühe, den Sachverhalt möglichst korrekt darzulegen, ohne aber zu viele oder zu wenige Details detailliert zu werden. Denn Iich wollte nicht den Faden nicht verlieren oder gar die Tonlage verfehlen. Doch der Schmerz hob sich weit hinauf ins Bewußtsein, schob jeden Gedanken beiseite: SCHWIERIG, WEIL EINE ERZÄHLUNG OHNE GEDANKEN NICHT GEHT, EGAL, OB MIT ODER OHNE DETAILS. Wir, das heißt mein Sachbearbeiter und ich, betrachteten meine Hand. Der rechte Zeigefinger war in die Ringmechanik des Leitzordners geraten VORSCHLAG: „EINES UNGEHEUREN LEITZORDNERS GERATEN, als der Hebel zugeschnappt war; die Spreizklammer hatte das erste Fingerglied durchschlagen; das Blut tropfte rasch auf die Bögen und Unterlagen, und so gleichmäßig wie ein VORSCHLAG: AUS DEM PULS EINES METRONOMS Metronom, DAS FOLGENDE GEHT NICHT:und versickerte im Papier : DENN BEIM VERSICKERN WÄRE ES DANN WEG, VIELMEHR SAUGT DAS PAPIER DAS BLUT AUF, ES BLEIBT ALSO SICHTBAR. Mein Sachbearbeiter ging zur Trinkwassersäule, füllte einen Becher und goß sich den Inhalt übers Haar, dann eilte er hinaus, als gälte es, etwas dringendes zu erledigen. Meine Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt, falls ich den Schmerz nicht ins Unerträgliche steigern wollte, doch konnte ich den Oberkörper ein wenig drehen und durch die vertikalen Lamellen der Jalousie hinaus auf den Hinterhof spähen. Dort stand mein Sachbearbeiter, mit dem Rücken leicht an die Wand gelehnt, und rauchte. Wassertropfen perlten aus seiner unversehrten Frisur und fielen synchron mit dem Blut aus meinem Finger. Immer wieder zischte und dampfte die von den Tropfen getroffene Zigarette HIER HATTE ICH BEREITS IM REALSEMINAR ANGEMERKT, DASS DER MANN IM ZIMMER DAS ZISCHEN DER ZIGARETTE GANZ SICHER NICHT HÖREN KANN AUF DIE DISTANZ. Endlich warf er sie halbgeraucht weg.

maudit - 14. Jul, 00:35

@ANH: Vielen Dank für Ihr Lektorat und Ihre Vorschläge!

In Vielem stimme ich Ihnen zu, jedoch nicht in Allem. Die Grundfrage ist wohl: Wie stark muß ein Text im Realen geerdet sein? Wie sehr darf er, sozusagen, die Naturgesetze beugen? Das hängt - jedenfalls für mich - von dem Text selbst ab, von der Welt, die er erschafft, und deren Stimmigkeit. Dies gesagt, müssen sich die Vorkommnisse aber im Rahmen des Plausiblen abspielen, nicht zuletzt weil der Text sonst unter dem Druck der Beliebigkeit implodiert. Aber gerade bei absurden oder grotesken Texten sind gewisse Beugungen manchmal nötig: Selbst wenn der Teufel Moskau heimsuchte, ließe sich bezweifeln, ob die Räder der Straßenbahn einen Kopf so sauber vom Rumpf trennen können, daß dieser über den Bahnsteig kugelt (vielleicht ein blasses Beispiel, aber dennoch).

Den Bedarf nach einer Pointe empfinde ich nicht. Auch das Zischen ist mir wichtig, und ich weiß momentan keine bessere Lösung als auf eine gesteigerte, aber nicht vollends abwegige Wahrnehmungsfähigkeit des Erzählers zu verweisen.

Ich habe eine korrigierte (vorläufige) Fassung eingestellt, obwohl sie immer noch einige der monierten Unstimmigkeiten aufweist.
albannikolaiherbst - 14. Jul, 09:22

@MAUDIT

Sagen wir es so: Je "selbstverständlicher" die Übereinstimmung einer Möglichkeit sowohl des Metaphorischen wie des Konkreten wirkt (wichtig, daß das eine Wahrnehmungs-Kategorie ist!), um so stärker wird der Text sein, quasi "unmittelbar". Darum geht es mir, Ihnen diesen Gedanken zu vermitteln. Selbstverständlich lassen sich gute nur-absurde Texte schreiben oder solche, die von vornherein nicht auf Konkretes angelegt sind, ihre Wirkung aber wird geschwächt. Das liegt daran, daß der nur-absurde Text ein Text allein für den Intellekt ist. Das nimmt ihm den Zugriff. Weshalb ich auf der Konkretion immer so beharre.
Dabei ist es gar nicht wichtig, daß Sie so etwas dann immer strikt "befolgen", Sie sollten es einfach nur im Kopf haben, um dort, wo sich die Möglichkeit zeigt, entsprechend verfahren zu können. Interessanterweise ist das ein Moment des Handwerks.
Wiederum hat ein nur-absurder Text die Möglichkeit, über den W i t z, also darüber, daß der Leser geradezu ungewollt auflachen muß, ebenfalls eine Unmittelbarkeit herzustellen; in Ihrem Text ist das, als schwarzer Witz, dort der Fall, wo die Ordnerklammer den Finger durchschlägt; nicht aber eben mehr beim Zischen der so weit entfernten Zigarette. Die gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit ist hingegen ein guter Einwand, aber Sie müßten sie im Text begründen, bzw. ihr einen Boden hineinschreiben. Was ganz sicher geht, und zwar tun Sie das am besten an einer Stelle, die der Leser hinnimmt, ohne daß er schon wüßte, worauf das dann hinausläuft.

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