Venezianisches Glas

Die Welt besehn durch eine Schicht
aus Fasernglas und Filigran.
Gedichte, die wie Netze sind -
den Dingen aufgelegte
trübe Muster einer andern
Wirklichkeit.
Felix Krull - 22. Jun, 21:37

In welcher Beziehung stehen die beiden Sätze zueinander?

Valivarius - 25. Jun, 15:13

Vorab: Die Stimmung, die das Gedicht entfaltet gefällt
mir! Was den Bau und einzelne Elemente angeht
bin ich mir aber noch unsicher.

Nun etwas konkreter:

>Die Welt besehn durch eine Schicht
aus Fasernglas und Filigran.
Gedichte die wie Netze sind - <

1. "besehn" statt "besehen" wird aus rhythmischen
Gründen verwendet, allerdings hört der
Rhythmus später auf und ich frage mich wieso.
Bzw. ich kann keinen neuen Rhythmus erkennen.
Es scheint, als hätte er sich aufgelöst.

2. Es wird auch nicht klar ob es sich hier um
den Prozess handelt "Die Welt wird besehn"
oder darum wie sie sich unter diesen Umständen
darbietet. "Die Welt, durch eine Schicht besehn,
sieht so aus: ..."

>Gedichte, die wie Netze sind -
den Dingen aufgelegte
trübe Muster einer andern
Wirklichkeit.<

4. Ich vermute, dass der Bezug zwischen dem
Muster des Glases und dem Bau des Gedichts
hergestellt werden soll.
Ein gutes Unterfangen, wie ich finde.
Was die andere Wirklichkeit nun ist
wird mir jedoch daraus nicht klar:
Ist es die Wirklichkeit des Künstlers oder
eine "jenseitige" Wirklichkeit?
Oder willst du das offen lassen?

5. Der Zeilenumbruch zwischen"aufgelegte" und "trübe"
stört den/meinen Lesefluss.
Wieso die Zeilenumbrüche gerade so?

6. Warum sind die Muster trübe?
Beim Glas kann ich das akzeptieren,
da das Licht dadurch abgeschwächt wird.
Allerdings bei Gedichten kann "trübe" sich
nur auf die Stimmung beziehen und es gibt
ja unterschiedliche Gedichte und Stimmungen.

"Fazit": Am wichtigsten ist mir die Frage
warum das Gedicht subjektlos ist,
warum also weder "besehn" noch "sind"
auf ein Subjekt bezogen sind.
Und natürlich Rhythmus + Zeilenumbruch.

Pierre Lachaise - 26. Jun, 10:52

Der Rhythmus alterniert konsequent zwischen Hebung und Senkung - das Metrum wird also an keiner Stelle aufgelöst. Mit den anderen Kritikpunkten bin ich aber einverstanden.

Valivarius - 27. Jun, 00:53

Damit bin ich auch einverstanden:
Alternation ist vorhanden.
Was ich (wirklich) meinte ist:
(1) Das Versmaß wird nicht eingehalten
(2) Es entsteht (für mich) keine durchgehende rhythmische Struktur (aus den Kola).

Zu (1):

>Die Welt besehn durch eine Schicht
aus Fasernglas und Filigran.
Gedichte, die wie Netze sind -
den Dingen aufgelegte
trübe Muster einer andern
Wirklichkeit.<

entspricht:

u-u-u-u-
u-u-u-u-
u-u-u-u-
u-u-u-u
-u-u-u-u
-u-

- = Hebung
u = Senkung

Die ersten drei Zeilen sind einheitlich gebaut,
darum die Behauptung das Versmaß würde
im Ganzen nicht erfüllt. Die anderen drei Zeilen
erscheinen uneinheitlich, vor allem durch den Zeilenumbruch.

Wenn man es in eine andere Form bringt, kommt
mein Problem besser zum Vorschein:

u-u-u-u-
u-u-u-u-
u-u-u-u-
u-u-u-u-
u-u-u-u-
u-

da sind zwei Silben zuviel, dass das Versmaß erfüllt werden könnte.

Zu (2):

Auch mit einer (von mir hier eher versuchten) Einteilung in Kola komme ich nicht weiter:
Auch hier ist zuerst alles einheitlich und zerfällt
dann in unterschiedliche Einheiten, die für mich
keinen Rhythmus zu konstituieren scheinen.

(u-u-)(u-u-)
(u-u-)(u-u-)
(u-u)(-u-u-)
(u-u)(-u-u
-u)(-u-u-u
-u-)

Der Zeilenumbruch spaltet dann die (bzw. 'meine') Kola auf. Deswegen meine Frage nach dem Zeilenumbruch.

Könntest du mir darstellen, wie dieses alternierende
Gedicht rhythmisch gelesen werden soll?
(Nicht, dass rhythmische Lesbarkeit unabdingbar
wäre, aber wenn du sagst, dass es einen Rhythmus gibt,
würde ich den gerne nachvollziehen.)
Pierre Lachaise - 27. Jun, 18:39

ich habe die zeilenumbrüche intuitiv verfasst, also so, dass der rhythmus im alternierenden versmaß nach meinem persönlichen empfinden sich als organisch darstellt. versuche einmal, das gedicht entsprechend den natürlichen wortakzenten zu lesen, unabhängig von den barrieren, die durch wie auch immer geartete zeilenumbrüche aufgebaut werden. wenn das gelingt, ist meine intention erfasst. vielleicht muss man aber zuerst mit dem "material" (ergo: den wörtern) vertraut werden, um selbstständig einen lesefluss erzeugen zu können. ich kenne dieses problem selbst von gedichten, die mir anfangs unbekannt sind. oft kritisiere ich einen mir ungewohnten rhythmus, zeilensprung etc. dann zu unrecht, wie ich dann wenig später feststellen muss. trotzdem bin ich gerne bereit, über alternativen nachzudenken, was den versumbruch angeht (und andere dinge auch, versteht sich). vielleicht bekomme ich ja einen vorschlag?

Valivarius - 27. Jun, 21:13

Also ich hätte angeboten zwei Silben zu eliminieren.
D.h. bsp.: Statt 'Wirklichkeit' - 'Zeit' oder dergleichen.
Bei dem Versuch doch einen Rhythmus zu finden
bin ich aber dann schließlich fündig geworden.
Aber zu 100% bin ich mir noch nicht sicher, weil es mir
irgendwann aufgefallen ist, dass man sogar einen
"normalen" Prosatext, mit der nötigen Mühe rhythmisch
lesen kann. Das wäre fast schon ein Thema für sich,
das durchaus eine Diskussion wert ist.
bonanzaMARGOT - 19. Jul, 13:21

anregende zeilen - gefällt mir.

albannikolaiherbst - 6. Okt, 10:13

@Pierre Lachaise.

I s t dies ein Gedicht, das untergelegte rhythmische Maß einmal hin und her? Fallen nicht die folgenden Zeilen gänzlich in Prosa?
den Dingen aufgelegte
trübe Muster einer andern
Wirklichkeit.

Es hilft nicht immer, "einfach" nur zu rhythmisieren. In d i e s e m Fall denke ich, daß Sie einen weiteren Kunstgriff brauchten, möglicherweise einen Reim, einen versteckten Reim vielleicht, einen verschobenen - irgend etwas jedenfalls, das aus der Prosaanmutung herausfällt. Es ginge auch mit Alliterationen. Einfach mal sich auf die Wortsuche machen.

herr_urian - 6. Okt, 10:53

Ich glaube allerdings, dass das "Einfach-Rhythmisieren" hier deshalb nicht reicht, weil etwa in der Alliteration "Fasernglas und Filigran" bereits ein lyrisches Sprechen anhebt, das nicht aufrecht erhalten wird. Generell könnte ein rhythmisierter Text, der sich rein als Prosa lesen ließe, damit meines Erachtens trotzdem zum Gedicht werden.

Im übrigen sehe ich in der zitierten Passage bereits das Gedicht-Merkmal offensichtlich bewusster Zeilenbrüche. Durchbräche man nun noch in irgendeiner Art den Jambus, könnte man jene, denke ich, vielleicht lyrisieren, ohne auf ein explizites Stilmittel oder versteckte Reime zurückzugreifen.
albannikolaiherbst - 6. Okt, 11:13

@Urian.

Ja, das ist denkbar. Jedenfalls fehlt eine Formung, das "Jambeln" reicht nicht. Man muß auch berücksichtigen, daß alleine die Alliteration durchaus nicht nur ein lyrisches Verfahren ist, sondern mindestens ebenso oft der Rhythmisierung von Erzählprosa dient. Auch von daher kommt das Problem hier.

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